Aus gegebenem Anlass habe ich mich heute auf einmal gefragt, was wäre eigentlich, wenn ich aufhören würde ärgerlich zu sein? Wenn ich mögliche Gelegenheiten meinem Ärger Ausdruck zu verleihen, einfach vorbei ziehen lassen würde? Wenn ich meinen Ärger einfach gehen lassen würde? Was würde mir fehlen? Würde es mir fehlen, dass ich in der einen Situation keine zynische Bemerkung machen würde, die nicht nur mir schal auf der Zunge schmeckt und die mich meist kleiner macht, als ich sein möchte? Würde es mir fehlen, dass ich laut werde und mit heißem Kopf etwas sage, das den anderen verletzen soll oder zumindest eine vermeintliche Schwäche seinerseits oder ihrerseits aufdecken soll? Oder würde mir einfach die Lust an der Zerstörung einer Situation oder einer Beziehung fehlen? Könnte es sein, dass mir der Moment fehlen würde, in dem der innere Druck des Ärgers nachlässt? Vielleicht würde mir aber auch das Gefühl fehlen, dass ich eine Ungerechtigkeit markiert habe und alle Welt jetzt hat sehen können, welche Werte mich bewegen?
Was mir auch immer fehlen würde, es würde mit ziemlicher Sicherheit ruhiger um mich herum und in mir werden. Ich würde mich vielleicht freier erleben und fühlen und ich hätte mehr Platz für positive Empfindungen, denn ich würde mich wahrscheinlich weniger getrieben fühlen? Ich hätte Zeit und Aufmerksamkeit, um über das nachzudenken, was mich da beschäftigt hat.

Doch wie mit dem Ärger umgehen? Die Stoiker rieten schon vor 2.000 Jahren dazu, dass wir unsere negativen Emotionen zunächst einmal bremsen müssen, denn auch sie wussten, dass ein Ärger, der eine bestimmte Schwelle überschritten hat, nicht mehr zu bremsen ist. In einem zweiten Schritt rieten sie uns dazu, dass wir den Ärger befragen sollten. Hierbei nutzten sie das Modell des „pathetischen Syllogismus“, wobei „Pathos“ im griechischen Erlebnis oder Leidenschaft bedeutet und ein „Syllogismus“ die logische Grundfigur bei Aristoteles ist. Dieser besteht dabei aus einem logischen Dreischritt und hat z. B. die Form:

1. Sokrates ist ein Mensch.

2. Alle Menschen sind sterblich.

3. Sokrates ist daher sterblich.

Auf unseren Ärger angewandt bedeutet dies z. B. Folgendes:

1. Immer wenn jemand A zu mir sagt, ist es ein Grund ärgerlich zu sein.

2. A wurde gerade mir gegenüber ausgesprochen.

3. Also ist es angemessen, dass ich ärgerlich bin.

Diese Struktur nutzend fordern die Stoiker uns dazu auf, dass wir überprüfen, ob sowohl die beiden Annahmen (1. und 2.) angemessen sind als auch der Schluss (3.) notwendig ist. Sollten wir an einer dieser Stellen Zweifel haben, so geben die Stoiker zu bedenken, dass unser Ärger nicht angemessen sein könnte und wir uns, wenn möglich, des Ärgers enthalten sollten.

Neben dieser Analyse der Struktur des Ärgers empfiehlt uns der römische Politiker, Geschäftsmann und Philosoph Seneca zusätzlich noch in seiner Schrift „De irae“, über den Ärger, die Überprüfung der Frage, ob das Empfinden und der Ausdruck von Ärger unseren Interessen jemals dienen kann? Er gibt uns hier dahingehend eine klare Antwort, dass selbst schon das Empfinden von Ärger aus seiner Sicht uns oft einen Ausdruck verleiht, welcher einem Menschen in vielerlei Hinsicht nicht angemessen erscheint und uns zumindest hässlich werden lässt. Darüber hinaus spielt er viele Situationen durch und schließt für jede dieser Situationen, dass der Ärger nicht zu einem besseren Ergebnis führt. Selbst auf dem Schlachtfeld hält er den Ärger nicht für hilfreich, da er vermeidet, dass wir mit kühlem Kopf unsere Pläne umsetzen.

Wie gelingt es uns jetzt aber den Ärger ziehen zu lassen? Wie können wir aus dem „Was wäre wenn…“ ein „ich lassen meinen Ärger ziehen“ machen? Was raten uns hier die Stoiker und Seneca? Zum einen raten Sie uns dazu wachsam gegenüber den Anfängen unseres Ärgers zu sein. Jeder Ärger fängt klein an und wächst sich dann zu einem großen Zorn, zur Wut oder zum Außer-Sich-Sein aus. Hierbei gilt die oben bereits erwähnte Einsicht, dass wir dem Ärger nur zu Beginn Herr werden können und uns dies auch nur mit der Zeit durch Übung gelingen kann. Die Stoiker raten uns daher dazu, dass wir jedes Mal, wenn wir den Ärger nicht haben ziehen lassen können, wir uns den Ärger anschauen und uns fragen, was hinter im steckte. Welche Annahme verbirgt sich hinter ihm und was wäre, wenn ich diese Annahme anzweifeln würde. Gelingt uns dies immer öfter, so lernen wir unseren Ärger kennen, lernen unsere Glaubenssätze zu hinterfragen und unpassende Annahmen und vielleicht sogar widersprüchliche Annahmen zu erkennen und diese zu verändern. Langsam, sehr langsam wird sich hierdurch unsere Wahrnehmung der Welt und auch die von uns selbst verändern und mit der Zeit werden wir merken, dass wir den Ärger zunächst noch ziehen lassen und dann aber sogar nicht mehr verspüren werden. Dann kann Ruhe und Gelassenheit bei uns Einzug halten und wir haben Platz in uns selber, um positive Gedanken und Empfindungen in uns Raum zu geben. Diese Veränderung wird unsere Welt in andere Farben tauchen und wir werden uns und „die Anderen“ mit anderen Augen sehen können. Was wäre also, wenn ich meinen Ärger ziehen lassen würde. Probieren wir es doch einfach einmal aus.