Warum schreibe ich hier etwas über den jüdischen Begriff der Teshuwah, welcher für Reue oder Umkehr steht? In meiner Praxis als Coach und Organisationsberater scheint das Phänomen der Verletzung und damit verbunden auch des Vergebens oder der Reue eine sehr große Rolle zu spielen. Hierbei finde ich diese Thematik sowohl in dyadischen Beziehungen zwischen zwei Personen, aber vor allem auch in Teams, in denen bestimmte Verletzungen nicht vergehen wollen. Dabei leiden nicht nur die direkt an diesen Verletzungen als „Täter“ und „Opfer“ Beteiligten, sondern meist auch das ganze Team und das über teilweise sehr lange Zeit. Gerade diese Langlebigkeit der Konflikte sowie die Reduktion eines Gegenübers auf die Rolle „Täter“ oder „Opfer“ stellt für Beziehungen und Teams dabei eine große Herausforderung dar, da die Kommunikationen durch diese Verengungen einfach nicht mehr fließen wollen.

 

Wie kann uns bei diesem Engpass der Begriff der Teshuwah helfen? Dazu lohnt es zunächst einen Blick in die jüdische Tradition dieses Begriffs zu werfen. Hier findet man, dass mit dem Begriff Teshuwah erst einmal gemeint ist, dass der, der gesündigt hat, sich von Gott abgewandt hat und nun umkehren muss, um wieder auf den Weg der Rechtschaffenheit bzw. des gottesfürchtigen Lebens zurückzukehren. In dieser engen Interpretation geht es in der Teshuwah in erster Linie also um das Verhältnis von Mensch zu Gott. Die Teshuwah findet aber auch auf das Verhältnis zwischen Menschen Anwendung. Hierbei spielen zwei Aspekte eine Rolle. Zum einen, dass das Verletzen eines anderen Menschen auch eine Sünde gegen Gott ist und damit auch in diesem Fall das Verhältnis von Mensch zu Gott im Fokus steht. Zum anderen geht es aber auch um die Frage, wie das durch eine Verletzung gestörte Verhältnis zwischen zwei Menschen wieder befriedet werden kann.

 

Die jüdische Kultur hat für beide Aspekte dieser Problematik einen ritualisierten Prozess unter dem Begriff der Teshuwah entwickelt. Ziel dieses Prozesses ist es dabei, dass das Opfer die Tugend der Vergebung und der Täter den Weg der inneren und äußeren Reue gemeinsam gehen können. Für das Opfer soll durch diesen Prozess neben der Anerkennung des entstandenen Leidens sowie der Bereitstellung möglicher Ausgleichshandlungen vor allem der innere Frieden ohne Groll dem Täter gegenüber ermöglicht werden. Für den Täter zielt der Prozess auf innere Umkehr und das Eingestehen der entstandenen Schuld aber auch die Möglichkeit ab, nach gelungener Reue wieder in Frieden leben zu können. Auf welchem Weg gelingt dies?

 

Der Weg umfasst dabei zunächst zwei überindividuelle Schritte zwischen Opfer und Täter und nachfolgend drei individuelle des Täters:

 

  • Der Täter muss zunächst nach Anerkennung seiner Schuld, die geschädigte Partei um Vergebung bitten und zwar im Rahmen einer persönlichen Begegnung unter Zeugen. Ein abstrakte Entschuldigung gegenüber Dritten oder aber gegenüber Gott ohne persönliche Begegnung wird als nicht hinreichend angesehen, da in der jüdischen Tradition der Glaube vorherrscht, dass tiefgreifender Wandel persönliche Interaktion voraussetzt. Sünde ist in dieser Sichtweise immer etwas sehr Spezifisches und Persönliches, das zwischen konkreten Menschen passiert. Zusätzlich zu diesem ersten Schritt können auch Ausgleichhandlungen (Zahlungen, Rückgaben oder ähnliches) im Sinne einer Sühne (Kaparah) von Bedeutung sein, in keinem Fall kann aber eine solche Ausgleichshandlung die öffentliche Anerkennung der persönlichen Schuld dem Opfer gegenüber ersetzen.

 

  • Weigert sich das Opfer nach dem 1. Schritt die Vergebung authentisch auszusprechen, dann ist der Täter aufgefordert, dass er mit Unterstützung von drei Freunden nochmals versucht beim Opfer die Vergebung zu erbitten, wobei die drei Freunde sich für den Täter aussprechen sollen. Gelingt dies nicht, so ist der Täter aufgefordert diesen Vorgang noch weitere zwei Mal mit jeweils drei anderen Freunden zu wiederholen. Ist das Opfer dann immer noch nicht bereit zu vergeben, dann gilt der Täter nicht mehr als Täter und das Opfer nicht mehr als Opfer, sondern der Sachverhalt dreht sich und das Opfer wird zum Täter.

 

Hier endet in der Praxis der Prozess der Reue bzw. Vergebung zwischen den beteiligten Parteien. Für den gläubigen Täter würden sich aber noch drei weitere Schritte anschließen.

 

  • Die Hinwendung zu Gott, um seine Sünden zu gestehen und zu bereuen. Dieses Gestehen und Bereuen muss dabei z. B. an Jom Kippur in der Synagoge laut ausgesprochen und nicht nur gedacht werden.

 

  • Diesem öffentlichen Bereuen schließt sich dann noch das Versprechen an sich selber und Gott an, dass man diese Sünde nicht wieder begehen wird.

 

  • Abgeschlossen wird der Prozess der Teshuwah dann durch das Einlösen des Versprechens in gleicher oder ähnlicher Situation wie der, in der man gesündigt hatte, nicht mehr so zu handeln wie zuvor. Gelingt dies, so erreicht man im jüdischen Glauben dann einen Status, welcher sogar höher ist als der des Zaddik, eines rechtschaffenden bzw. moralisch hervorragenden Menschen. Der Gefallene und wieder aufgestandene Mensch zeigt seine Würde im jüdischen Glauben darin, dass er trotz Sünde wiederaufsteht.

 

Überträgt man diesen Prozess in die Praxis moderner Organisationen so können aus meiner Sicht hierbei zwei Dinge von besonderem Interesse sein. Zum einen der Aspekt der überindividuellen Rahmung dieses Ausgleichprozesses. Im Prozess liegt die Autorität über den Ausgleich letztendlich nicht bei den einzelnen an einem Konflikt beteiligten Personen, sondern bei der Gruppe, in die diese Personen eingebettet sind. In der Organisationspraxis ist dies die Gemeinschaft der Mitarbeitenden oder aber das Team. In direkter Übertragung würde ein schwelender Konflikt, welcher aus individueller Sicht nicht geklärt werden kann, durch die Gruppe beendet werden können. Entweder durch Ausschluss des „Täters“, der keine Reue zeigen will oder aber durch Ausschluss des „Opfers“, dass keine Vergebung praktizieren will. Ich finde diesen Gedanken sehr spannend, da durch solch eine Prozessabsicherung ein langlaufender Konflikt zumindest auf der Ebene der Gruppe beendet und für eine Gruppe befriedet werden kann. Herausfordernd bleibt an einer solchen Konzeption aber die Frage, wie die initiale Feststellung von Schuld und damit auch der Unterscheidung „Opfer/Täter“ in einer realen Situation geschehen kann, da es zwar sicherlich eindeutige Situation geben kann, viele Situation aber gerade im Hinblick auf diese Frage von außen sehr schwer zu beurteilen sind. Trotzdem halte ich es für sehr lohnend, dass Teams und Organisationen sich mit der Frage auseinandersetzen, wie Mediationsprozesse so gestaltet werden können, dass am Ende auch eine Befriedung auf überindividueller Ebene erreicht werden kann.

 

Der zweite für mich sehr spannende Aspekt an diesem Prozess ist, dass bei der Bewältigung eines Konfliktes auf individueller Ebene sowohl das „Opfer“, als auch der „Täter“ gefordert sind, sich individuell zu entwickeln. Für das „Opfer“ bedeutet dies sich mit der Tugend der Vergebung auseinanderzusetzen. Für den „Täter“ steht die Frage im Vordergrund, wie eine ernst gemeinte innere Umkehr gelingen kann, welche auch nachhaltig zu einer Verhaltensänderung führen wird. Diese Prozesse sind für jeden sehr herausfordernd. Sie führen aber, wenn wir uns ernsthaft auf sie einlassen, zu innerem Wachstum sowie zu innerer Ruhe und Gelassenheit und damit auch zu einem besseren Miteinander mit anderen. Zuletzt zeigt sich im ernsthaften Durchlaufen dieses Prozesses nach jüdischer Lesart auch unsere menschliche Würde.

 

 

Quellen:

 

Die Sonnenblume: Über die Möglichkeiten und Grenzen von Vergebung

von Simon Wiesenthal, 2015

 

Zorn und Vergebung: Plädoyer für eine Kultur der Gelassenheit von Martha Nussbaum, 2017