Nachdem der amerikanische Präsident in seiner Amtszeit im Dezember 2019 die Schwelle von 15.000 „Lügen“ überschritten hat (siehe Factchecker-Seite der Washington Post: Stand 10.12.19), kann man sich die Frage stellen, ob es sich hier noch um das Phänomen normalen Lügens handelt. Wenn man hier Zweifel hat, könnte man auch von chronischem Lügen oder aber pathologischem Lügen sprechen, aber selbst bei diesen Bezeichnungen verbleibt ein Gefühl von Unwohlsein. Eventuell ist dieses Verhalten mit dem Begriff des Lügens gar nicht mehr passend zu beschreiben. Wie könnte man es aber dann begreifen? Hier bietet sich eventuell ein auf philosophischer Ebene auf den ersten Blick überraschender Begriff, nämlich der Begriff des „Bullshit“ an. Der Begriff „Bullshit“ wurde philosophisch durch den amerikanischen Philosophen Harry Frankfurt geprägt, welcher 1986 seinen mittlerweile berühmten Artikel „On bullshit“ im Raritan Quaterly Journal (Vol. 6, No. 2) veröffentlichte (2005 wurde „On Bullshit“ zusätzlich noch als Monographie veröffentlicht und in dieser Variante dann auch berühmt.). Frankfurt analysiert in seinem Text die Natur des Begriffs „Bullshit“ und kommt zu dem Schluss, dass es sich bei „Bullshit“ dem Wesen nach um Sprechakte handelt, welche nicht mehr mit dem Anspruch verknüpft sind, wahre Aussagen über die Realität zu treffen. Der „Bullshitter“ unterscheidet sich hierdurch fundamental vom Lügner, da dieser die Wahrheit kennt und nur zu verbergen trachtet. Die Wahrheit bekümmert den Lügner, in der Hinsicht, dass er sie zu verbergen trachtet. Der „Bullshitter“ hat andere Motive, als die Wahrheit auszusprechen und versucht seine Gesprächspartner über diese Motive im Dunkeln zu lassen. Ob er dabei faktisch die Wahrheit sagt oder nicht, ist ihm im Zweifelsfall egal. Aus Sicht dieser Analyse wäre es also durchaus interessant, das Verhalten von Donald Trump nicht mehr als Lügen sondern als „Bullshitten“ zu bezeichnen. Was aber steckt hinter „Bullshit“ und warum ist es, wie auch nach Ansicht von Harry Frankfurt, in unserer Zeit so häufig zu beobachten?
Harry Frankfurt nennt hier drei mögliche Gründe. Zum einen weist er auf die Situation hin, dass viele Menschen in unserer komplexen Welt ständig dazu aufgefordert werden, Aussagen über Dinge zu treffen, welche sie faktisch nicht mehr verstehen oder aber nicht hinreichend kennen (können), um den Anspruch an wahren Aussagen genügen zu können. Dies führt zu der Situation, dass wir alle in diesen Situationen nichts mehr sagen dürften oder aber, dass wir in die Verlegenheit kommen, „Bullshit“ von uns zu geben. Letzteres dann dadurch, dass wir typischerweise versuchen werden etwas zu sagen, dessen Wahrheitsgehalt uns nicht klar ist (Ignoranz („Bullshit“) und nicht Verbergen („Lügen“) von Wahrheit) und wir dabei versuchen werden so zu klingen, als ob wir wüssten, wovon wir reden (Motiv: Versuch unsere Unwissenheit zu verbergen). Dieser Auslöser für „Bullshit“ mag uns dabei noch als Kavaliersdelikt erscheinen, obwohl auch er den Anspruch an die Wahrhaftigkeit des Sprechens bereits deutlich in Frage stellt und eine weitere einfache Lösung darin bestände, dass wir sagen, dass wir hier nicht Bescheid wissen.
Als zweiten Anlass nennt Frankfurt die Tatsache, dass wir als gute Bürger nicht nur im Alltag, sondern vor allem auch in der Ausübung unserer demokratischen Pflichten dazu angehalten sind, zu allen politischen Diskussionsthemen eine Bewertung abzugeben. Wir sind als gute Bürger also moralisch dazu verpflichtet Aspekte unsere Umwelt zu bewerten und zu den damit zusammenhängenden Fragen eine Meinung zu haben. Diesem Anspruch können wir aber alle nicht in vollem Maße gerecht werden, da die Komplexität vieler Sachfragen uns überfordern kann. Wenn wir in dieser Situation dem Anspruch der Wahrhaftigkeit in unseren Aussagen gerecht werden wollten, so bliebe auch hier nur das Schweigen, da wir sonst in die Gefahr kommen, „Bullshit“ von uns zu geben (siehe vorher).
Als letzten Grund nennt Frankfurt noch einen tiefergehenden Anlass für die Produktion von „Bullshit“. Diesen findet er in der Postmoderne oder besser in der im postmodernen Denken prominent gewordenen Position des „Anti-Realismus“. Diese philosophische Position ist dadurch gekennzeichnet, dass sie den Erwerb verlässlichen Wissens über die Realität und damit die Existenz einer erkennbaren Realität gänzlich bestreitet. Ausgehend von dieser Position, so postuliert Frankfurt, lässt sich die Produktion von „Bullshit“ durch derartige Sprecher dann mit der grundsätzlichen Einsicht dieser in die Unmöglichkeit und damit Relevanz von Wahrheitsfindung begründen. Motivseitig scheinen derartige Sprecher nach Frankfurt dann ihre Ignoranz gegenüber der Wahrheit häufig durch eine starke Betonung ihrer persönlichen Aufrichtigkeit ersetzen zu wollen, wobei Aufrichtigkeit anstelle von Wahrhaftigkeit überzeugen soll. Harry Frankfurt bemerkt bzgl. dieser Position, dass er sie als in sich widersprüchlich ansieht, da der Sprecher vorgibt sich erkennen zu können (denn dies ist die Grundlage der Aufrichtigkeit), obwohl er auf der anderen Seite vorgibt, keine verlässlichen Erkenntnisse mehr formulieren zu können.
Betrachten wir diese drei Gründe für die Produktion von „Bullshit“ und wenden sie auf einen Sprecher wie Donald Trump an, so kann man bzgl. der ersten beiden Gründe zu folgendem Bild kommen. Ja, auch er ist wie wir alle immer wieder dazu aufgefordert in vielen Situationen etwas zu kommentieren oder über ein Thema zu urteilen, das er nicht ganz überblickt oder überblicken kann. Man könnte ihm in dieser Hinsicht also einen Teil seiner „Bullshit“-Äußerungen verzeihen, auch wenn die Anforderungen an die Wahrhaftigkeit der Aussagen einen Präsidenten sicherlich deutlich höher sind, als dies für den „normalen“ Bürger der Fall ist und er als Präsident auch deutlich mehr Ressourcen zur Verfügung hat, um sich hier Informationen bereitstellen zu lassen. Donald Trump gilt in dieser Hinsicht aber nicht als sehr fleißiger Präsident. Fraglich bleibt für mich in diesem Zusammenhang aber, ob das Motiv in diesen Fällen tatsächlich nur das Verbergen persönlicher Unsicherheit ist. Viele Äußerungen Trumps erscheinen mir hier in ihrer inhaltlichen Aussage und Form nicht zufällig gewählt, sondern viel mehr deutlich auf eine Emotionalisierung seiner Zuhörer abzuzielen. Sei dies durch das Ansteuern moralischer Emotionen („Lock her up!“) oder aber durch bewusst emotionalisierende Tweets (z.B. im Dezember 2019 als Trump Greta Thunberg persönlich beleidigte). Hier könnte man von „Bullshit“ sprechen, da diese Äußerungen sowohl gegenüber der Wahrheit ignorant sind, als auch in ihnen die wahren Motive Trumps (Emotionalisierung seiner Anhänger oder aber Erzeugen von medialer Aufmerksamkeit) verborgen werden. Wie steht es nun noch mit dem dritten tieferliegenden Anlass, der Position des „Anti-Realismus“. Hier will ich mir kein Urteil zur philosophischen Tiefe des amerikanischen Präsidenten erlauben, ich neige aber eher dazu, diese Begründung als nicht so relevant anzusehen. Auch glaube ich, dass die mit dieser Option verbundene Problematik der Widersprüchlichkeit auf Seiten des „Bullshitters“ Trump kaum Betroffenheit auslösen würde.
Fassen wir zusammen, so könnte man das Bild Donald Trumps als eines chronischen oder pathologischen Lügners durch das Bild eines ausgeprägten „Bullshitters“ ersetzen. Inwiefern ist diese Umstellung hilfreich? Ich denke vor allem daher, dass sie uns den Blick dafür schärft, dass die in vielen Fällen vermeintliche Ignoranz von Fakten und Wahrheit nicht dadurch zu erklären ist, dass die Welt voller Lügen und Lügner ist. Viel mehr scheinen wir es mit einer Welt zu tun zu haben, in der Sprecher ihre wahren Motive in zunehmendem Maße zu verbergen suchen und wir gut daran tun, den Blick für diese zu schärfen. Im Fall von Donald Trump oder auch anderen Politikern wie Boris Johnson oder Jair Messias Bolsonaro könnte man z. B. den Versuch beobachten, existierende Polarisierungen in der Politik ihrer Länder durch Emotionalisierungsbotschaften zu zementieren bzw. zu vertiefen. Ein Prozess, der in der Literatur spätestens seit dem Jahr 2016 mit den Schlagworten „post-truth“ (Wort des Jahres im Oxford Dictionary der Englischen Sprache im Jahr 2016) oder aber „post-faktische Demokratie“ beschrieben wird. Der Begriff „post-truth“ bezieht sich hierbei auf Gesprächssituationen, in denen objektive Fakten weniger Einfluss auf die Meinungsbildung haben als Emotionen und persönliche Glaubenssätze (siehe hierzu auch „Reality Lost“, Hendricks und Vestergaard, 2019).